Der Weihnachtsbrief

Liebe Kinder,

dieses Jahr werdet ihr Weihnachten einmal ohne mich verbringen müssen, denn ich werde über die Feiertage ganz allein verreisen.

Der Entschluss ist plötzlich gekommen und ich weiß auch noch nicht genau wohin, aber ich möchte dieses Christfest einmal auf eine ganz andere Weise feiern.

Vater konnte ich nicht überzeugen mich zu begleiten, denn er ist der Meinung, dass man Weihnachten zu Hause sein muss. Ihr könnt also, wie jedes Jahr, ruhig nach Hause kommen. Da die Feiertage seit Jahren nach einem festen Ritual ablaufen werdet ihr es auch ohne mich schaffen.                              

Sonst habe ich zu dieser Zeit bereits ein paar Vorbereitungen getroffen, die ich diesmal irgendwie vergessen haben muss. Aber unter euch sind ja perfekte Hausfrauen, die mir immer wieder gut gemeinte Ratschläge für Essen und Trinken geben konnten.

Das Zimmer für die Übernachtungen muss noch aufgeräumt werden. Die Gästebetten könnt ihr bei Müller nebenan und bei Meier ein Stück die Straße runter ausleihen.

Die Bettwäsche liegt oben im Kleiderschrank des Schlafzimmers. Vier Betten zu überziehen ist für euch doch ein Klacks.

Ich will euch das Festmahl nicht vorschreiben und habe aus diesem Grund auch nichts eingekauft. Die Mengen für 12 Personen errechnet ihr einfach, indem ihr den Viertagesbedarf eurer drei Familien zusammenrechnet. Mit meinem kleinen Wagen musste ich immer ein paar Mal in den Supermarkt fahren, doch ihr könnt es ja mit euren schönen, großen Limousinen in einem Rutsch besorgen. Außerdem könnt ihr, wenn ihr zusammen fahrt, die schweren Getränkekisten bequemer nach Hause befördern als ich.

Denkt aber daran, dass Papa nur Weizenbier mag und Olaf nur Coca-Cola, Hanne trinkt nur Fanta und die Kinder mögen nur diesen bestimmten Kakao aus dem Feinkostgeschäft aus der Stadt. Dort kann man nicht parken und es ist auch immer sehr voll, aber ihr habt ja Urlaub und eine Menge Zeit mitgebracht, nicht wahr? Aber was sage ich denn da? Ihr habt mir diesbezüglich eure Wünsche ja immer mitgeteilt.

Vielleicht solltet ihr auswärts essen gehen, denn das Spülen der Geschirrberge hält immer so lange auf. Aber wenn ihr alle mithelft, ist es bestimmt in 30 Minuten erledigt und ihr könnt weiter fernsehen.

Wenn ihr aber zu Hause essen solltet, dann könnt ihr getrost das gute Service aus dem Wohnzimmerschrank benutzen. Ich kenne jetzt eine Quelle, wo ich das von den Kindern zerbrochene Geschirr nachbestellen kann. Der Katalog mit Preisliste liegt im Wohnzimmer. Wenn also etwas zu Bruch gehen sollte, dann legt das Geld einfach in die mittlere Schublade des Wohnzimmerschrankes und ich bestelle die Teile einfach nach.

Denkt doch bitte noch an den Weihnachtsbaum. Ich bin nicht dazu gekommen.

Das Einstielen ist nicht so schwierig. Leider kann Papa euch nicht dabei helfen, denn diese Arbeit hat er immer mir überlassen. Wenn eure Hände nach dem Schmücken zerstochen sind und schmerzen, in meiner Nachttischschublade liegt eine gute Heilsalbe.

Der Christbaumschmuck liegt wie immer im Keller auf dem hinteren Regal. Nehmt in diesem Jahr lieber die elektrischen Kerzen, denn die Brandflecken vom letzten Jahr sieht man immer noch. Die Kinder wollen doch sicher wieder im Wohnzimmer Ball spielen, während ihr vor dem Fernseher sitzt.

Eins macht mir allerdings ein wenig Sorge: WER wird den Streit-Schlichter bei euren Diskussionen machen wenn ICH nicht da bin. Ihr wisst ja, dass Papa sich lieber raushält, weil seine Nerven zu empfindlich sind. Am besten bleibt ihr alle etwas gelassener, auch bei Erziehungsfragen. Jeder macht schließlich bei der Aufzucht seines Nachwuchses Fehler.

Ich habe mir da auch einiges vorzuwerfen. Aber glaubt mir, es ist nie zu spät mit dem Umerziehen anzufangen.

Übrigens finanziere ich mit dem Geld, dass ich sonst für Eure Geschenke ausgegeben habe, dieses Jahr meinen Urlaub. In den letzten Jahren habe ich nie euren Geschmack getroffen und ihr habt die Sachen kurz nach Weihnachten meistens wieder umgetauscht.

Löst die Gutscheine, die ihr bestimmt auch dieses Weihnachten wieder für mich besorgt habt, ein und kauft euch selbst eine Kleinigkeit.

Bevor ihr wieder abreist bring bitte alles wieder in den Zustand wie ihr ihn bei eurer Ankunft vorgefunden habt. Die Betten abziehen, waschen und die Bettgestelle wieder rüber zu den Nachbarn bringen. Den Weihnachtsbaum könnt ihr auch wieder abschmücken und entsorgen, denn wenn ich Mitte Januar zurück bin ist es ja zu spät dafür.

So, jetzt muss ich den Brief aber schließen, sonst verpasse ich noch den Bus zum Flughafen. Wenn ich zurück bin, könnt ihr mit ja berichten wie euch das Weihnachtsfest gefallen hat.

Frohe Weihnachten wünscht Euch

Mutti

 09/1998